Gutbürgerliches sonntägliches Radeln, 2024

Bei meinen Vorbereitungen für den Aufenthalt in Wien habe ich mich entschieden, mein Fahrrad mitzunehmen. Denn Wien kämpft gegen Klimawandel und Stau, indem günstige City-Bikes und ein engmaschiges Fahrradnetz angeboten werden. Schlussendlich war es jedoch Google-Maps, das mich überzeugte, mein Rad für 13 Euro von Zürich nach Wien zu transportieren (das hat mich übrigens weniger gekostet als das Fahrradticket von Liestal nach Zürich). Die Route von meiner Wohnung zum Zentrum sollte laut der App nur 11 Minuten dauern. «Kein Problem», dachte ich mir.

Einige Tage später befand ich mich auf den prophezeiten Fahrradwegen und ich muss zugeben, ich fühlte mich wohl. Auch Google-Maps hat nicht zu viel versprochen, obwohl die Fahrt vom Hauptbahnhof zu meiner Wohnung deutlich länger dauerte. Nicht die Ortsfremdheit war der Grund, sondern das schwere Gepäck und die unerwartete Steigung, die mich beinahe zum Rückwärtsfahren brachten. Die Träger der rosa Tasche auf meinen Schultern schnürten mir fast die Luft ab, sosehr zerrte ihre Masse an mir. Erleichtert erreichte ich einige Minuten und Schweißflecken später meine Wohnung im Bezirk 7. 

Am ersten Sonntag in Wien nahm ich mir vor, an einen Flohmarkt zu radeln. Trotz Großstadt sind hier die Läden sonntags nämlich geschlossen. «Na dann», entschloss ich, «radle ich gut bürgerlich durch den Sonntag». Als ich in die erste größere Straße einbog, steuerte ich den abgesonderten Radweg an. Meine Aufmerksamkeit lenkte jedoch nicht ein, denn sie wurde von den aufragenden beigen Meisterwerke vor mir eingenommen. Mächtige Säulen stützten die verschnörkelte Fassade, die von lebendigen Skulpturen geprägt war. Kaiserlich thronte die geschwungene Kuppel an der Spitze. Ein wildes Klingeln holte mich erschrocken zurück zum Radweg. Da durchquerte eine pinke Box auf zwei Rädern die architektonische Pracht vor mir, komplementär zu den grünen runden Büschen, die den weiten sauberen Platz säumten. «Pass auf!», die Worte hallten in meinem Ohr nach. 

Beim nächsten Rotlicht war ich froh um die kurze Verschnaufpause. Diesmal lag es nicht an den Höhenmetern, sondern an den starken Windböen, die ich natürlich nicht im Rücken hatte. Trotz der Autos, die die Kreuzung vor mir überquerten, nahm ich Geräusche hinter mir wahr. «Klar, es gibt wohl noch weitere sonntägliche Radelnde». Das beschleunigende Ticken der Ampel warnte uns vor dem Wechsel von Rot auf Grün. Kaum trat ich in die Pedalen, düsten gefühlt zehn pinke Boxen an mir vorbei. Ärger stieg in mir hoch. Selbstverständlich gingen sie davon aus, dass ich ihnen den Vortritt ließ. Ich lernte, dass Foodora sonntags beliebt ist. 

Nur wenige Meter später musste ich bremsen, da ich die Ausfahrt verpasst hatte. Mühsam und etwas genervt versuchte ich, mein Rad wenden. Da kam wieder eine in Pink gehüllte Gestalt auf mich zu, die fast in mein Fahrrad gekurvt wäre. Selbst seine breiten Räder gerieten in diesem Wind zum Wanken. Dabei ertappte ich mich bei der Frage, ob Radwege nicht eigentlich für «normale» Fahrräder gedacht wären?
Die pinke Person fragte mich: «Wie heißt das Wort für Wind? Also es ist .... ?» Die gestikulierenden Hände suchten lebhaft nach dem Adjektiv. Ich dagegen blinzelte verwirrt, denn ich hatte nicht erwartet, mit Foodora zu quatschen.
«Windig», brummte ich etwas lustlos. 
«Ah ja, windisch is s heut.» Seine Augen weiteten sich etwas. 
«Und kalt», fügte ich hinzu, wobei mich Foodora's Freude ansteckte. «Gut, dass du Handschuhe trägst.»
«Ne», lachte er, «kalt ist es heute überhaupt nisch. Aber windisch».
«Stimmt, für den Februar ist es ziemlich mild», schoss es mir durch den Kopf, wie blöd von mir. Foodora hat wohl schon bei unvergleichlicher Kälte Essen geliefert. Etwas peinlich berührt schaute ich auf meinen Lenker vor mir. 
«Schönen Tag», sagte mein Gegenüber und riss mich damit aus meinen Gedanken.
«Tschüss», doch das hat er wohl nicht mehr gehört. Neidisch blickte ich den dicken Rädern nach, die vom Motor getrieben wurden.

Auf meiner weiteren Fahrt stellte ich nachdenklich fest, dass ich kaum andere Radelnde gesehen hatte, die keine pinke Kleidung trugen. Je weiter ich mich von Zentrum entfernte, desto verlassener waren die Radwege. Eingehüllte Menschen mit Plastiktüten oder kleinen Kindern in den Händen scharten sich an die Bus- und Tramhaltestellen. Unterschiedliche Sprachen füllten die windige Luft. Gesprächsfetzen und Müll wirbelten zu mir und ließen auch meine Gedanken rotieren. Mir scheint, als würde der Wind hier noch stärker wehen. Ich befand mich im südlichen Teil der Stadt. Hier sind die Markierungen der Radwege weniger deutlich gekennzeichnet. Die monotonen Fassaden gehen damit einher, denn sie bröckelten und verblassten. Links und rechts von mir wuchsen dicht aneinandergedrängt winzige Balkone aus den Wohnblöcken. Abfallsäcke und verschiedene Nationalflaggen brachten die wenigen Quadratmeter im Freien zum Überquellen. Sie bildeten einen bunten Kontrast zum monotonen Rest. Wenige Minuten später passierte ich einen langgezogenen Friedhof. Überrascht blickte ich auf die gereihten grauen Grabsteine. Ich hatte einen Park erwartet. Erstaunt stellte ich fest, dass ich Foodora vermisste.

Selbst als ich den Flohmarkt erreichte, kreisten meine Gedanken wie gierige Geier umher. Sie übertönten das lautstarke Feilschen und Handeln um mich: «Alles kleiner Preis! Günstig!» Muffige Kleider überfluteten klapprige Stände. Bald verschluckte mich die dichterwerdende treibende Menschenmasse. Der Trubel trieb mich immer mehr an den Rand des Geschehens und spuckte mich schlussendlich aus. Selbst nach einer Verschnaufpause auf einer von der Autostraße eingeengten winzigen Fläche Grün brummte mir der Kopf. Ich schaffte es nicht, mich ein zweites Mal ins Gewimmel zu stürzen. Ohne zu zögern kehrte ich zum außer von mir unbenutzten Fahrradständer zurück und kettete mein Rad los. Nach einem kurzen Abstecher in einem nahegelegenen Park ohne Grabsteine, kroch das Hungergefühl in mir hoch. Erleichtert über den ernstzunehmenden Grund, nach Hause zu radeln, forderte ich Google-Maps auf, mir den Rückweg anzuzeigen. 

Wie in einem Tunnel richtete ich den Blick starr nach vorne und trat gleichmäßig in die Pedalen. Alles um mich verschwamm zu einem eintönigen Farbklecks, als wäre die graue Agglomeration von einem wässrigen Duktus gemalt. «He!» erst der dritte Ruf drang in mein Bewusstsein. Verunsichert folgte ich dem lauten Klang der Worte. «Is noch immer windisch, ne.» Erst als ich die am Lenker befestigten Handschuhe am Fahrrad neben ihm entdeckte, erkannte ich Foodora. Er war nun schwarz gekleidet. Eine kippe rauchend lehnte er an die verblasste abgeblätterte Fassade. «Schönen Feierabend!» schrie ich ihm entgegen und hob die Hand zum Winken. Diesmal waren es meine Augen, die sich weiteten. 

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